Tagebuch - nicht nur meiner literarischen Arbeiten

Verleger gesucht!

Achtung: Haiku veröffentliche ich ab sofort nur noch auf meiner website

Es gelten die rechtlichen Hinweise, wie auf meiner homepage.siehe:

Willkommen bei meinen Worten und Gedanken. Schreibt mir, wenn ihr etwas dazu meint. Meine E-Mail Adresse:
spinger.paul@googlemail.com

Für Teilnehmer und Freunde meiner freien Seminare steht ab sofort folgende Seite zur Verfügung:
https://sites.google.com/site/paulsweltliteratur/

Hörbares von mir: http://paul-spinger.podspot.de

Freitag, 8. August 2008

Vorortimpressionen


Bild: Egon Schiele, Tote Stadt oder Stadt am blauen Fluss, 1911, (zeno.org)

Vorortimpressionen


Hier

Im verhartzten Ghetto

Lebe ich gerne.

Hier

Klingeln die Handys schriller.


Immer

Schimmert eine Glotze

Durch die

Ungewaschenen Fensterscheiben.


Sieben

Schnapstankstellen

In einer Straße!


Rotzfreche Kinder,

Meine Kumpels beim

Schmiere stehen,

Lümmeln

Zwischen den Schrottautos.



Kommentargedicht von Elsa Rieger:

rotzfreche kinder

was bin ich froh
sie zu kennen
mutiger kampf in 
dieser abscheulich
gewordenen welt 
die wir ihnen schwer 
gemacht unlebbar ~ seid frech
ihr rotznasen und lebt!


Copyright: ELsa Rieger


27 Kommentare:

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

eine Bestandaufnahme, die mich irritiert - weit und breit verbreitete Meinung „der höheren Schichten“ (der besser Verdienenden) von denen Du Dich als Autor nirgendwo abgrenzt...

Vertretest Du diese Meinung (diesen pauschalisierten Blick)? Aus deinem Text ist nirgendwo ersichtlich, dass du anders denkst.


„rotzfreche Kinder lümmeln“ ist ein sehr unangebrachter Ausdruck - die Kinder werden hier verurteilt, für etwas wofür sie nichts können...

Es genügt nicht nur eine Impression stupide wieder zu geben... Mir fehlt die Intention (Hintergründe: warum/wieso...)

LG
@miro

Anonym hat gesagt…

Lieber Miro,
ich muss Dir recht geben. Ich bin dem (falschen) Rat eines Bekannten gefolgt, und habe nicht die ursprüngliche Fassung veröffentlicht. Wird heute abend geändert.
Liebe Grüße

Anonym hat gesagt…

Dies ist jetzt die ursprüngliche Fassung.

Anonym hat gesagt…

Ich erachte Pauls Zeilen nicht als seine Meinung. Eher als Provokation, um andere Meinungen hervorzurufen.
Voller Erfolg, das ist ja nun geschehen!
Tatsächlich handelt es sich um ein sehr heikles Thema. Ich selbst werde tagtäglich mit sog. "sozialschwachen" Menschen konfrontiert. Und es ist leider so, dass es Menschen gibt, die jegliche Verantwortung für sich und andere abgegeben haben. Dass es so ist, auch das hat seine Gründe! Die Kinder sind die Leidtragenden; sie bekommen keine Werte, keine Anreize vermittelt. Und - in Gottes Namen - sie werden nicht erzogen! (Das zum Thema "rotzfrech".)
Seit einigen Wochen verfolgt mich ein Bild: Die kleinen Kinder einer inhaftierten Frau wurden der Tante anvertraut. Die besoffene Tante ist auf Wohnungssuche. Die Kinder stören sie durch Geschrei. Sie schüttelt die Kleinen durch... setzt sie zurück in den 2-Sitzer-Kinderwagen... der Junge schreit weiter, was ihm Ohrfeigen einbringt... das Mädchen ist ruhig. Der Anblick dieses Mädchens, aus dem die Kindheit bereits herausgeschüttelt zu sein schien, diese unerträgliche Stumpfheit...
Mir fehlen die Worte!
Miro, das gibt es... ich erlebe das!
Missbrauch und Gewalt gibt es in a l l e n Bevölkerungsschichten, aber wenn noch Bildungsarmut hinzukommt, sieht es für die Kinder schlecht aus. Wie sollen sie irgendwann ein "normales" Leben führen?
Die Kinder der "Besserverdiener" haben auch bessere Chancen! Das ist eine traurige Tatsache. (Der einflussreiche Papa sorgt schon dafür, dass der Sohn/die Tochter einen "gescheiten" (lukrativen?) Arbeitsplatz bekommt.)

Der Staat spart an Schulen und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche... Das wird verheerende Folgen haben!

Schöne Grüße
Claudia Jo.
P. S. Dass sich die kleinen Kinder nicht in guten, fürsorglichen Händen befanden, darüber wurde das Jugendamt informiert.

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

Lieber Paul,

Die Anmerkung kannst Du ruhig auslassen: das ist unwichtig...
Dein Gedicht ist nicht mehr was ich schrieb und empfand.

Es gefehlt mir sehr: gesellschaftskritisch, einfach und
liebevoll aus Trotz und prekärer Lage geschrieben...

„rotzfreche Kinder
(...)
lümmeln“


:schon sieht es anders aus - nicht mehr kühle
Bestandaufnahme: der Autor versteckt sich und
schämt sich nicht...er beseelt

Mit freundlichen Grüßen
@miro

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

...nur soviel liebe Claudia...weltfremd lebe ich nicht, aber das sind unsere Kinder...
Wieso und warum...und was wird mit ihnen...eine andere Geschichte...

Und bei der Kritik (wenn ich kritisiere) bin ich direkt, auch wenn es manchen nicht passt...
Gegenseitiges Loben bringt uns nirgendwo...Ich bin mehr offen für die Kritik (auch unberechtigte) als fürs Lob...

Wie man einen Text ließt und empfindet ist sehr individuell...als Provokation konnte ich vermuten
(weil ich glaube Paul zu kennen), aber für die Leser reicht das nicht aus...

Liebe Grüße
@miro

Anonym hat gesagt…

Lieber paul,

mir gefiel Deine erste Fassung besser, weil sie die Hinterhofatmosphäre genau einfing so wie sie ist, da ist nichts beschönigt. Der auktoriale Schreiber sagt: da lebe ich gerne, weil...
und dazu gehören eben auch die sich lümmelnden, rotzfrechen Kinder, denn ohne sie wäre der ort auch nicht was er ist.
Im übrigen sind heutzutage nicht nur die Kinder aus der Unterschicht, die Du, liebe Claudia so treffend beschreibst, rotzfrech, sondern mit schneidender Ironie gerade die verwahrlosten Kinder der oberen Schichten,(und davon gibt es genug)
die ihren Spaß an der Frechheit richtig genießen können.
gut, claudia, dass Du Deine Alltagserfahrung hier genannt hast, ich kann Deine Sehweise (und für alles gibt es ja immer viele verschiedene Sehweisen) voll unterstützen.

Lieber Paul,
Tippteufel: verharzt?

Bitte stell doch Die erste Fassung noch einmal ein, diese Provokation war doch wirklich echt und gut! Rotzfreche Kinder lümmeln... zwischen Schrottautos... gibt ja sonst nichts zu tun.

Lieber Miro,
Deine Verteidigung der Kinder - sie können nichts dafür - ist ehrenhaft und ganz wunderbar, aber Missstände können nicht mit "rosa-roten" Beschreibungs-Beschönigungen angeprangert werden.
Das wäre dann ein neues Gedicht:
Das Gedicht von der Verteidigung der armen Kinder!

...in einer Wohlgesellschaft, in der jeder nur nach "HappyWellness" strebt, da stören Kinder. Die wollen, dass man mit ihnen redet, dass man sich mit ihren Problemen beschäftigt, dass man zuhört, dass man Pflästerchen aufpappt und Heile-Heile-Gänschen singt, und am Abend vorliest, damit die Gespenster unter unter der Bettdecke kleiner werden... aber mama und papa haben dazu keine zeit, absolut nicht, zu gar nix von alledem, sie schauen fern oder sitzen am computer, sie telephonieren und chatten... === und hoffen, dass ihr Kind, wenn es denn endlich eine Walkman, einen Computer oder Fernseher hat, (aber den hat es sowieso im Zimmer), dann Ruhe gibt. Ich habe das hundertfach erlebt. Die sprachlose Welt, Kinder die einen Wortschatz von kaum 1000 Wörtern haben, (wohlhabende Eltern), weil niemals irgendjemand ein Gespärch mit ihnen geführt hat!

Jetzt habe ich viele Tippfehler gemacht, aber mir fehlt die Zeit zu korrigieren.
Ich freue mich auf neuen Gedankenaustausch

Liebe Grüße
Gabriele

Anonym hat gesagt…

Ich habe die erste Fassung leider nur heute auf der Arbeit kurz gelesen. Auch mir gefiel sie besser, aber schwache Erinnerungen haben das oft an sich. Ich schließe mich Gabriele an und verlange kategorisch (ha!) die Herausgabe der Urfassung. Wenn es denn sein muß (weil's Verlangen nicht tut), bettele ich auch darum! Also, Paul, bitte bitte (Ö.Ö)


LG
Susanne

Anonym hat gesagt…

Liebe Gabriele,

das ist kein Tippfehler, sondern eine Anspielung auf die Hartz-Gesetze (ALGII usw).
Ich kann die erste Fassung nur hier im Kommentarbereich noch einmal wiedergeben, denn ich stehe nicht dahinter. Menschen die mich kennen wissen, wie ich denke. Ein unbekannter Leser muss aber bei der ersten Fassung glauben, dass es sich um die Schilderung eines "Touristen" in ein Ghetto handelt. Da gebe ich Miro völlig recht.
Hier noch einmal die erste Fassung:

Vorortimpressionen

Hier
Im verhartzten Ghetto
Klingen die Handys schriller.

Immer
Schimmert eine Glotze
Durch die
Ungewaschenen Fensterscheiben

Sieben
Schnapstankstellen
In einer Straße!

Rotzfreche Kinder
Lümmeln
Zwischen den Schrottautos.

Übrigens mag ich Kinder die rotzfrech sind. Auch diese können sehr liebenswürdig sein. Dazu:
Vor kurzem hat mir ein Kind, das ich nicht kannte eine Grimasse geschnitten. Na und? Ich habe einfach selbst eine Grimasse zurückgeworfen, und schon war das Eis gebrochen; beide haben wir gelacht.

Danke für Euer Engagement.

Anonym hat gesagt…

Es stimmt: Kritik ist wertvoll! Inwieweit sie angebracht ist, das muss dann herausgefunden werden.
Aber eines war mir bereits klar: Wenn Miro schreibt, dass er was gut findet, dann findet er's auch gut!
Ich finde auch diese Diskussion gut.
Und ich empfand "verhartzt" sehr raffiniert: Eindeutig zweideutig. Es stimmt auch, dass ich über die sog. wohlstandsverwahrlosten Kinder weniger weiß, da ich nicht unmittelbar mit ihnen konfrontiert werde. Ein sehr interessantes Thema: Die Alten scheffeln Geld, während die Kinder seelisch verarmen!
Liebe Grüße an alle

Anonym hat gesagt…

@Paul

Sorry, mein Fehler, das mit dem "verhartzt" - hab die Zweideutigkeit nicht gesehen und nur an einen Schreibfehler gedacht...
das Verb "verharzt" hat mir natürlich zu denken gegeben, ich dachte an "verhornt", "abgestumpft" und war zufrieden. Jetzt sehe ich natürlich noch die sozial-politische Komponente.

Gabriele

Anonym hat gesagt…

@Paul:
Ich hatte gestern hier einen weiteren Kommentar abgeschickt. Es kam die Meldung, daß dieser noch freigeschaltet werden muß, daher nahm ich an, daß er angekommen sei.

Nun scheint das aber nicht der Fall zu sein. Könntest du nachschauen? Wenn er verloren gegangen ist, stelle ich ihn nochmals ein.

LG
Susanne

Anonym hat gesagt…

Liebe Susanne,

der scheint verloren gegangen zu sein. Bitte noch einmal einstellen.

Anonym hat gesagt…

Jetzt habe ich mir beide Versionen deines Gedichtes angeschaut. Du sagst, das zuletzt gepostete wäre die Urfassung, das andere eine bearbeitete. Das irritiert mich, weil ich eher das Gegenteil empfinde. Die - beanstandete - Version ist mir viel klarer. Kommt ohne Kumpaneien aus wie 'lebe ich gerne' und 'meine Kumpels'. Denn, entschuldige die Direktheit, es ist mir nicht eingängig, daß diese Kinder deine Kumpels sind. Sie sind niemandes Kumpel, ihre Koalitionen haben die Halbwertzeit einer angezündeten Tüte. Und gerade wenn du behauptest, daß du dort gerne lebst, macht das dich zum Besucher aus den besseren Kreisen. Niemand, der dort lebt, lebt dort gerne. Alle leben dort, weil sie nicht woanders hin gekommen sind.

Miro kritisiert: "Es genügt nicht nur eine Impression stupide wieder zu geben..." und er bemöngelt "diesen pauschalisierten Blick". Diese Kritik verstehe ich nicht. Ein Gedicht ist kein Report über die Lage der arbeitenden Klasse, keine Diskussion über den 'affluent worker', kein Bericht einer Enquete-Kommission. Natürlich gibt es die Färbung der eigenen Impressionen, die sich in ein Gedicht hinein basteln. Jedem, der spannend schreibt, geschieht das, ohne darüber nachzudenken, Dächte er zu viel, würden seine Worte leiden. Weil sie dann nicht aus seinem Blick, sondern aus geliehenem Hinschauen stammen. Das ist zumindest meine Auffassung. Dieses Färben ist eher unterschwellig, wo das Vorurteil Typisches heraus holt. oder der eigene Abscheu, die eigene Sperrigkeit gegen das Gesehen eine Nuance betont, eine Einzelheit, die für das Ganze stehen kann. Daher glaube ich, daß der Begriff 'stupide Wiedergabe einer Impression' - angewandt auf verbale Formen zumindest - ein Widerspruch in sich ist. Wenn ich z.B. Charles Dickens nehme, lese ich auch vor allem Wiedergabe, und kaum bis keine Wertung, ebenso wenig Begründung. Oder bei Honoré de Balzac. Dennoch legen diese Texte mir Wertung und Begründung nahe. Es ist meine Leistung, meine Antwort auf sie. Deswegen würde ich als Gegenposition sagen: Aber ja, je stupider, desto besser. Ich will Impressionen lesen, keine Parteiprogramme oder sozialwissenschaftliche Anthologien. Der, der mit dem offenen Mund des Erstaunens durch die Vororte läuft, sagt mir mehr als der, der mit in seine Bücher gesenktem Kopf nach überzufälligen Korrelationen sucht und sie in seine Modelle einpaßt.

Miro bemängelt weiter, daß "die Kinder... hier verurteilt (werden, S.S.), für etwas wofür sie nichts können...". Ja, Miro, die Kinder werden in der Tat für etwas verurteilt, für das sie nichts können, und zwar nicht vom Beschreibenden, sondern von der Welt, in die sie hinein geschmissen wurden. Nichts haben sie sich zu Schulden kommen lassen, als bereits das Urteil über sie gefällt war: daß sie schuldig sind und bestraft sind, und sich in ihrem Leben so einiges noch werden zu Schulden kommen lassen bei dem Versuch, aus dieser Misere heraus zu kommen! Und es ihnen dennoch nicht viel nützt, von kurzen Momenten der Ekstase einmal abgesehen. Und, was oft übersehen wird - diese Kinder wollen meistens weder Mitleid noch Verständnis noch Hilfe. Was andere von ihnen denken, geht ihnen am Arsch vorbei. Sie stehen auf eine Weise alleine da, die sehr schwer überhaupt zu umschreiben ist. Und zu verstehen in einem nicht instrumentell erklärenden Sinne schon gar nicht. Sie sind, um diesen Begriff zu verwenden. 'rotzfrech', und sie lassen das auch nicht sein, verpflanzte sie ein wohlwollender deus ex machina für die Dauer eines Gedichtes, einer Vernissage, einer Lesung, eines Kolloquiums in die Welt des Bundesangestelltentarifes, der Bio-Joghurte und des elterlichen Gejammers, warum die Reitstunde denn nun ausgerechnet auf den Freitag Nachmittag fallen muß. Vermutlich würden sie dir dabei nur in die Eier treten und dazu lachen.

Im Übrigen haben beide Versionen etwas. Ich ziehe aber weiterhin die erste (die stupidere) vor.

Anonym hat gesagt…

Liebe Susanne,

natürlich hast Du recht, wenn Du sagst, dass eine Impression nichts von einem Parteiprogramm oder einer Klassenanalyse haben sollte. Und trotzdem muss eine Impression, nach meinem Empfinden, etwas vom eigenen Selbst herüber bringen, ganz abgesehen davon, was vom Ich ganz alleine aussagt wird, ohne dass es bewußt geschieht.
Geschrieben habe ich dieses Gedicht nach einem Besuch in einem Hannover-vorort, und dabei habe ich mich daran erinnert, wie es war, als ich selbst in so einer Gegend wohnte. (Das war öfters der Fall.) Wenn Du sagst, dass man in so einem Viertel nicht gerne leben kann, muss ich Dir vehement wiedersprechen. Dann kennst Du den Unterschied zwischen gar keiner Wohnung und einer "Ghettowohnung" nicht aus eigener Erfahrung, weißt nicht, wie die Menschen, die dort leben wirklich von ihrer Lage denken.
Was die Kinder betrifft: Hier schreibe ich "Kumpels beim Schmiere stehen". Das hat mit einer langfristigen "Koalition" nichts, aber auch gar nichts zu tun. Du beschreibt ja selbst sehr gut etwas von der Befindlichkeit dieser Kinder. Aber da steht Kumpels und nichts Freunde. Denn ihre Freunde suchen sie sich selber aus. (Nur in ganz wenigen Fällen haben sie manchmal mich ausgesucht, aber sie hatten völlig andere Interessen als ich.)

Es ist wunderbar so engagierte Kommentare zu einem Gedicht zu bekommen, das ich selber für mich gar nicht so wichtig genommen habe. - Immerhin habe ich es geschrieben.

Nochmal Danke

Bis demnächst

Paul

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

...sehr interessant wie wir diskutieren (was und wie wir empfinden/denken oder glauben...) und sehr lebhaft ist es auch-

Nur paar Bemerkungen noch:

In meinem Blog habe ich schon erwähnt, dass ich mit Masse und Klasse nicht anfangen kann und noch weniger bin ich „ihr Sprachrohr“ - egal Links, Rechts oder Mitte:
“Meine Intervention“ ist rein literarisch (mit politischen/sozialwissenschaftlichen oder...oder...nichts zu tun).

„Hier
Im verhartzten Ghetto
Klingen...“


so fängt die erst gepostete Version an (meiner Meinung nach, so fängt meistens ein journalistisches Bericht in der Presse oder der Tageschau...und immer so, um angebliche Neutralität des Betrachters/Berichterstatters zu bewahren).

Und das irritiert mich...Als Krieg in Ex-Jugoslawien tobte so fang jedes Bericht an: „Hier liegen zahlreiche Verletzte...“ - der Journalist berichtete und kümmerte sich um gute „saubere“ Aufnahme und neben ihn Kriegsopfer verbluteten...ein Literat hätte das nie gemacht...

„Ein Gedicht ist kein Report...“ so ist es liebe SuMuse, aber erste Version ist gerade das, was Du kritisierst...

“(...) je stupider, desto besser...“ das ist heutzutage Modentrend (nicht nur in der Literatur) - ich bleibe lieber bei je ästhetischer, literarischer, desto besser

“Der, der mit dem offenen Mund des Erstaunens durch die Vororte läuft, sagt mir mehr als der, der mit in seine Bücher gesenktem Kopf nach überzufälligen Korrelationen sucht und sie in seine Modelle einpaßt.“

Mir sagt noch mehr aus der, der im Getto lebt/gelebt hat, als der, der nur über Nachrichten in Schlagzeilen etwas erfährt“ - und nebenbei erwähnt, als Flüchtling habe ich jahrelang „gettoisiert gelebt“...schöne Jahre, schwere Jahre...sehr lebhaft, richtig menschlich und kein Theater: da ist Lachen wirklich Lachen, da ist Weinen nur Weinen...

Liebe SuMuse ich möchte mich nicht so stark wie Du von „Gettoisierten“ abgrenzen...ich lebte früher wohlwollend (wie Du wahrscheinlich lebst) und sehr schnell landete ins Getto...langsam fasse ich den Fuß wieder an aber wie lange...

Auch wenn Dir nicht passt: Du kritisierst „das Theoretisieren“ und merkst nicht, dass Du dabei theoretisierst...Deine „Getto-Menschenkenntnisse“ sind nicht „Vorort-Kenntnisse“...

Liebe Grüße
@miro

Elsa Rieger hat gesagt…

rotzfreche kinder

was bin ich froh
sie zu kennen
mutiger kampf in
dieser abscheulich
gewordenen welt
die wir ihnen schwer
gemacht unlebbar ~ seid frech
ihr rotznasen und lebt!


ELsa

Anonym hat gesagt…

Diese Diskussion ist für mich ebenfalls sehr interessant, und ich denke, daß viele von uns sie in irgendeiner Form oft schon geführt haben.

Der Punkt ist für mich allerdings nicht, ob jemand in einem Vorort oder Ghetto leben muß, damit sie über diese Räume und ihre Bewohner schreiben, singen oder berichten kann. Wir alle erschließen uns die Welt durch die Sprache, lassen sie uns sagen und erzählen sie einander, auch und gerade, wenn sie vor unseren Augen passiert. So etwas wie 'unmittelbare Erfahrung' gibt es nicht, Erfahrung, jede Wahrnehmung ist immer schon begrifflich, und das heißt sprachlich, vermittelt. Ich habe daher das Wort 'stupide' aufgegriffen, weil es mir eine 'einfache' Erfahrung recht gut zu kennzeichnen scheint, die sich des Dabeituns der Erfahrenden zu den Anlässen ihrer Erfahrung bewußt ist und dieses - etwa durch bewußte Vereinfachung und Verknappung, durch pointierte Beschreibung - sprachlich entschlüsselbar wiedergibt

Es ist doch gerade eine der interessantesten Leistungen, wenn Menschen sich eines Fremden - sei es eine einzelne Person, eine ganze Gemeinschaft, eine bestimmte Zeit oder Epoche - vergewissern durch Studium von Quellen, durch Eindringen in die spezifischen Sprache(n), durch Nachempfinden von Geschmack, Sitten und Moden usw. Wäre das lebendige Dabeisein der einzige Weg zum Verstehen, verstünden wir kaum uns selbst, geschweige denn unsere Nächsten.

Miro nun sieht in der ersten Version des Gedichts oben einen Report und kritisiert: "ein Literat hätte das nie gemacht... ". Eine solche Aussage halte ich für zu mutig und zu anmaßend. Und ihre Begründung bleibt Miro mir auch schuldig.

Daß einige Journalisten auf diese Weise einige ihre Artikel anfangen, macht es nicht zu Nicht-Literatur. Vor allem aber sehe ich die Trennlinie nicht. Literat ist in meinen Augen jeder, der sich darum bemüht, Texte zu schreiben, die ihm gefallen, und dabei das Ziel im Kopf hat, daß diese von anderen gelesen werde könnten, und daher seinen Texte mit dem Label 'Literatur' versieht (oder versehen läßt). Das Gremium, das diesen Titel offiziell verleiht und Lehrpläne für die Ausbildung zum Diplom-Literaten entwickelt, sehe ich nicht. Ich fände das auch einigermaßen lächerlich.

Zur Ähnlichkeit mit einem Report: Die Verwendung von Stilmitteln aus anderen Bereichen ist schon immer eine Methode des Schreibens und sprachlichen Formens gewesen. Mit Miros Begründung wäre dann auch die Verwendung der Worte und Wendungen der deutschen Sprache bereits hinreichend, einen Text als Report zu qualifizieren, da diese auch in Reporten verwendet werden. Ein Report unterscheidet sich für mich von Literatur dadurch, daß außen dran Report steht, durch nichts sonst. Das kann durch die Art der Veröffentlichung kenntlich gemacht werden oder durch eine Willensbekundung des Autors.

Aber schauen wir uns doch einmal den Anfang genauer an: "Hier / Im verhartzten Ghetto / Klingen die Handys / schriller." Da steckt für mich eine Menge an Selbst drin. Im Spiel mit den Konnotationen des ALG, in der wertenden Bezeichnung des Vorortes als 'Ghetto', in dem gefühlsbeladenen Komparativ 'schriller'. Das sprechende Ich kann vergleichen und qualifizieren und tut das auch explizit und auf einer intellektuellen Ebene, die für den beschriebenen Ort durchaus nicht alltäglich ist. Also entsteht in mir sofort das Bild eines Besuches, eines Spaziergangs im Vorort, mit all der Distanz, die dabei zu Tage tritt. Und das Bild einer Wahrnehmung von Isolation und Benachteiligung (Ghetto), die sich dem Besucher offenbar zuerst als akustisches Unbehagen (schriller) vermittelt hat. Das alles ist für mich mit diesen Zeilen sofort da, gefärbt, ein sprechendes Ich bildend, und meine Aufmerksamkeit subjektiv ausrichtend.
Das ist doch kein Report! Kein 'Hier in Marzahn hören wir überall das Klingen der Handys'! Auch wenn es wie ein Report klingt.

Miro schreibt: "Du kritisierst „das Theoretisieren“ und merkst nicht, dass Du dabei theoretisierst...Deine „Getto-Menschenkenntnisse“ sind nicht „Vorort-Kenntnisse“". Dem widerspreche ich heftig. Ich kritisiere mitnichten das Theoretisieren. Sprechen ist immer schon Theoretisieren, bewußt geformtes Schreiben allemal. Und jedes 'Ghetto-Wissen' ist Theorie. Meines wie das jedes anderen Menschen. Noch das um Mitleid heischende Gestammel eines Junkies verwendet begriffliche Konstrukte und Annahmen über seine soziale Realität, wie auch die Reden sich anbiedernder Sozialarbeiter, wenn sie sich des vermeintlichen Jargons ihrer Klientel bedienen. Ohne solche 'Theorien' über unsere soziale Realität fehlte uns jede Orientierung und jede Möglichkeit der Kommunikation und wir wären in der Tat wie wie die Anthropologin auf dem Mars.

Ich würde auch nie bezweifeln, daß es in den Vororten Lachen und Weinen gibt. Die gibt es überall, wo Menschen sind, selbst in durchgestylten Villen mit schwarzen Panzerwagen in der Einfahrt oder adretten Reihenhäuschen mit ökologischen Gärten dahinter. Ob in Vororten oder Ghettos 'richtiger' gelacht wird und 'menschlicher' geweint, kann ich nicht beurteilen. Meiner Erfahrung nach sind die Menschen dort mehr aufeinander angewiesen und erleben Konkurrenz eher aus dem Blickwinkel der Verlierer, und sie setzen das im Alltag und im Umgang miteinander durchaus um. Hilfsbereitschaft und Mitleid, Stolz und Prahlerei, Neid und Mißgunst, Herrschaft und Unterdrückung, Willkür, Ausgrenzung und Diskriminierung, Haß und Heimtücke gibt es dort ebenso wie in den sozialen Strati, in denen die Menschen sich persönlich als leistungsfähiger sehen und auf Konkurrenz eher aus der Perspektive der Gewinner sehen.

Aber auch das Ghetto, der Vorort oder das sozial deprivierte Milieu kennen Gewinner und Verlierer, und hinter der Fassade der ekstatischen Momente allgemeiner Verbrüderung und Solidarität, hinter dem Tanzen und Singen und Lachen und Weinen, das es natürlich immer wieder dort gibt, lebt auch stets das andere: die verhuschten Gestalten, die sich im Hinterhof oder eine halbe Treppe hoch schnell eine Spritze setzen; die harten Jungs, die auf dem Klo mit der süßen Halbwüchsigen schnell eine Nummer schieben und zwei an die Backe (und, wenn's ihnen paßt, ein kleines Briefchen) als Bezahlung zurück lassen; die, die mit dem feuerroten Spielmobil weggefahren werden müssen, weil die dritte Flasche Bier schon zu viel für ihren Körper war und das immer sein wird. Und endlich gibt es auch dort die stillen, mächtigen Männer mit dem vielen Geld, von dem keiner so genau sagen kann oder will, wo es her kommt, und um sie herum die lauten, hochmütigen Männer, die ihre Form des Ackermannschen V's in die erhobenen Hände klatschen.

So, nachdem ich mich in Rage geschrieben habe, noch ein freundlicher Schluß. Nein, halt, eines muß ich noch loswerden. Wenn ich den Eindruck erweckte, ich grenzte mich von den fraglichen Bewohnern ab, dann stimmt das nur in einem Sinne - ich bin keine von ihnen. Was aber nicht heißt, daß ich dort keine Menschen kennen muß oder mit ihnen nicht reden und zusammen arbeiten kann. Oder nicht in solchen Räumen gelebt habe.

Vielleicht war jetzt einiges sehr polemisch, aber ich hoffe sehr, daß es als persönlicher Beitrag zur Diskussion ankommt.

LG
Susanne

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

Liebe Literaturfreunde,

aus meinem ersten Kommentar ist ersichtlich was ich bei erster Version vermisse bzw. was mir sehr unklar war: Autorenstandpunkt. (Auch wenn ich jetzt etwas theoretisiere...) Mit diesem Begriff bezeichnet man die Einheit von Weltanschauung und ästhetischer Wertung die im Werk jedes Autors enthalten ist und die der Leser bei der Aneignung und Analyse des Werkes erfasst.
J. W. Goethe schrieb z. B.: “Jeder Schriftsteller schildert sich einigermaßen in seinen Werken, auch wider Willen, selbst.“
Diese Feststellung geht davon aus, dass jeder Autor in seinen Werken, ob gewollt oder ungewollt, seinen Standpunkt zum Ausdruck bringt.

Die Analyse des Autorenstandpunktes wird auch im Zusammenhang mit der Untersuchung von „Parteilichkeit und Gemeinschaftsverbundenheit“ eines Autors vorgenommen. (Wahrscheinlich einer von Gründen dass mir Susanne „Nicht gesagtes“ unterstellt und diese Sätze schreibt: “ Diese Kritik verstehe ich nicht. Ein Gedicht ist kein Report über die Lage der arbeitenden Klasse, keine Diskussion über den 'affluent worker', kein Bericht einer Enquete-Kommission. (...)Ich will Impressionen lesen, keine Parteiprogramme oder sozialwissenschaftliche Anthologien.

Auch wenn mir bekannt ist, dass sich nicht immer ein direkter Bezug zwischen dem Autorenstandpunkt und den Aussagen des lyrischen Ichs bzw. des Ich-Erzählers herstellen lässt, von Paul als Lyriker verlangte ich eine „Entscheidung“, um „eine stupide Wiedergabe und ‚Scheinneutralität‘ des Autors zu vermeiden...Meiner Meinung nach, ein Gedicht sollte sich von journalistischem Schreiben und „photographischer Aufnahme“ unterscheiden...

............

Leider unsere Unterhaltung wird immer polemischer...es wird immer mehr neue Elemente ins Spiel gebracht, die ehrlich gesagt irrelevant (aber auch nicht gesagt) sind: “ Nicht-Literatur (...)Texte mit dem Label 'Literatur' (...) Das Gremium, das diesen Titel offiziell verleiht und Lehrpläne für die Ausbildung zum Diplom-Literaten entwickelt...“ Diese Sätze bzw. Formulierungen zeigen nur dass „sehr viel konstruiert und zwischen Zeilen gelesen wurde“...

Ein Report unterscheidet sich von einem Gedicht (und da werde ich tausendmal widersprechen - Die Lyrik ist eine der drei Gattungen der Dichterkunst. In der Lyrik wird nicht das umfassende Bild eines abgeschlossenen epischen Geschehens oder einer ablaufenden dramatischen Handlung aufgebaut. Der Dichter strebt danach, Gedanken, Gefühlen, Stimmungen zu gestalten, die vielfältigen Regungen und Bewegungen des Menschen in seinen Beziehungen zur Wirklichkeit. Er gestaltet eher ein Bild von dem Verhältnis des Menschen zu den Dingen seines Lebens als das Bild dieser Dinge selbst. Der lyrische Dichter artikuliert unvermittelt sein Verhältnis zu einem Gegenstand) - auch wenn ein Report/ein Leitartikel in der Tagespresse im weiteren Sinne zu Literatur gehört.

...aber die Literatur lat. litteratura - ‚Buchstabenschrift‘ ist sowieso alles schriftlich Überlieferte. Dazu gehört die allgemein mitteilende (z. B. o. g. Report), die wissenschaftliche, die populärwissenschaftliche, die religiöse oder die künstlerische („schöngeistige“).

Komischerweise Susanne verteidigt Einsichten von denen sich selbst Autor abgegrenzt hat: “Ein unbekannter Leser muss aber bei der ersten Fassung glauben, dass es sich um die Schilderung eines "Touristen" in ein Ghetto handelt.“

...

"ein Literat hätte das nie gemacht... ". Eine solche Aussage halte ich für zu mutig und zu anmaßend. Und ihre Begründung bleibt Miro mir auch schuldig.
Was gibt es da zu Begründen? Ein Lyriker knipst nicht (Fotoreporter)/macht keine Notizen (Journalist) neben Leidenden...das Geschehene/das Gesehene/das Erlebte...also, sein Material bearbeitet er „in Stille und immer mit etwas zeitigem Abstand“.

Ich hoffe es/ wünsche mir...Paul verzeiht uns...

LG
@miro

Anonym hat gesagt…

Liebe Literatenfreunde,

da gibt es nichts zu verzeihen, lieber Miro. Und, liebe Susanne, es ist richtig toll zu lesen, wie Du Dich in Rage schreibst.

Ich bleibe dabei: Miros Kritik war für mich berechtigt, denn ich messe mich, und lasse mich an meinen eigenen Ansprüchen messen. Zu diesen hat die zuerst veröffentlichte Fassung nicht gepasst.
Welche Ansprüche das sind? Die kommen in der Gesamtheit von allem was ich schreibe zum Ausdruck, sind aber zum Beispiel auch zu erkennen, wenn ihr meine Auswahl an deutschsprachigen DenkerInnen und DicherInnen auf meiner homepage anschaut.

Aber was jedem einzelnen gefällt, das soll er nur selbst, und kann er nur selbst, entscheiden.

Ich grüße Euch alle ganz herzlich.

Euer Paul

Anonym hat gesagt…

Also, Paul, ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen muß, wenn ich jetzt noch weiter diskutiere. Für mich ist es so, daß ich mich eher glaubte, entschuldigen zu müssen, wenn ich das nicht täte. Da das aber hier dein Blog ist und du ohnehin alle Kommentare erst einmal frei schalten mußt (was ich für keine schlechte Idee halte), ist es an dir, die Diskussion einfach zu stoppen, wenn du das willst. Ich jedenfalls habe eine Menge Spaß dabei, zu diskutieren, möchte den aber nicht zu Lasten Anderer mir nehmen. Außerdem besteht doch immer die Chance, daß ich etwas dazu lerne, wenn ich mich erklären muß und die Erklärungen anderer versuche zu verstehen.

Nun also zum Thema.

Miro sagt: "Leider unsere Unterhaltung wird immer polemischer...es wird immer mehr neue Elemente ins Spiel gebracht, die ehrlich gesagt irrelevant (aber auch nicht gesagt) sind"und bezieht sich dabei auf meine sicherlich sehr polemische Aussage zu einem 'Literaturpatentamt'.

Ich persönlich habe nichts gegen Polemik, und ich denke auch nicht, daß ich etwas Neues ins Spiel brachte, das nicht zwischen den Zeilen bereits vorhanden war. Das was ich ansprach, lese ich in solchen Aussagen wie:

"Mit diesem Begriff (des Autorenstandpunktes, S.S.) bezeichnet man (wer ist man? S.S.) die Einheit von Weltanschauung und ästhetischer Wertung (die sich nie ändern, niemals ausprobiert, variiert werden, zum Zwecke der Orientierung, des Broterwerbs, des Gefallens? S.S.) die im Werk jedes Autors (das ist also geteiltes und anerkanntes Wissen, wer nun alles Autor war, ist und sein wird - und wer nicht? S.S.) enthalten ist und die der Leser bei der Aneignung und Analyse des Werkes erfasst."

"Die Analyse des Autorenstandpunktes wird auch (von wem? S.S.) im Zusammenhang mit der Untersuchung von „Parteilichkeit und Gemeinschaftsverbundenheit“ eines Autors vorgenommen. "

"von Paul als Lyriker verlangte ich (in wessen Namen und mit welcherm Recht? S.S.) eine „Entscheidung“, um „eine stupide Wiedergabe und ‚Scheinneutralität‘ des Autors zu vermeiden".

Daß ich hier nicht zwischen den Zeilen las, als ich ein Gremium ansprach, das als Schiedsstelle für Lyrik usw. dienen soll, wird mir daran sehr klar. Und für irrelevant halte ich dieses Element schon gar nicht.

Ich bin da ganz anderer Auffassung: Von einem Lyriker hat niemand etwas zu verlangen außer, daß er sich an die Gesetze hält und seine Rechnungen bezahlt! Ich wehre mich vehement dagegen, aus einer deskriptiven Einteilung ("Die Lyrik ist eine der drei Gattungen der Dichterkunst. ... Der lyrische Dichter artikuliert unvermittelt sein Verhältnis zu einem Gegenstand") eine verbindliche Anweisung abzuleiten. Weil Menschen etwas tun, müssen sie es noch lange nicht tun sollen!

Für mich baut Miro des weiteren ein falsches Bild von 'stupider' Wahrnehmung und 'Neutralität' des Beschreibens auf, welches auf menschliches Wahrnehmen keinesfalls zutrifft. Und aus diesem Bild leitet er seine Abgrenzung des 'Lyrischen' oder 'Literarischen' vom 'Report', vom 'Fotografischen' ab, die ich daher als nicht haltbar, weil auf falschen Annahmen beruhend, ansehe.

Er sagt: "Meiner Meinung nach, ein Gedicht sollte sich von journalistischem Schreiben und 'photographischer Aufnahme' unterscheiden..." Wieso? Auch eine photographische Aufnahme erzeugt 'Realität', wie jede Wahrnehmung. Das betrifft sowohl den Prozeß der Aufnahme (Kamerastandpunkt, Bildausschnitt, Blende und Brennweite, Schärfentiefe, Farbverzerrung, Körnung usw.) als auch den der Betrachtung (Umfeld, Vergrößerung, Belichtung, Schärfe, Rahmen usw.). Der Gegensatz, den Miro hier konstruiert ('dumme' Wahrnehmung via Technik oder neutralem Journalismus gegen 'vermittelte' - den Ausdruck bevorzuge ich, es gingen auch 'intelligente' oder 'gefilterte' oder 'vorurteilsbehaftete' - Wahrnehmung) existiert in meinen Augen nicht.

"Ein Lyriker knipst nicht (Fotoreporter)/macht keine Notizen (Journalist) neben Leidenden...das Geschehene/das Gesehene/das Erlebte...also, sein Material bearbeitet er 'in Stille und immer mit etwas zeitigem Abstand'. " Abgesehen davon, daß ich diese Aussage für schlichtweg falsch halte, fehlt mir nach wie vor irgend ein mir einsichtiger Grund, woher diese Ab- und Eingrenzung der Lyriker genommen wird.

Zu meinen Gründen, warum ich sie für falsch halte:

Das Material für Lyrik ist nicht nur Geschehenes, Gesehenes, Erlebtes, es ist genauso gut Gelesenes, Gehörtes, Berichtetes, Mitgefühltes, eben auch Literatur/Lyrik selbst. Ich glaube sogar, daß der Anteil des selbst Erlebten an den heutigen Texten immer mehr zurück geht gegenüber dem aus zweiter Hand (Medien usw.) Erfahrenen. Gerade in den Vororten, die hier zur Diskussion Anlaß gaben, ist doch die Normierung der Erlebens und Erfahrens durch Medien, durch Pop, Filme, TV, Clips usw. eine sehr auffällige Erscheinung - warum sollte die also nicht auch in die Lyrik hinein wirken?

Natürlich knipsen Lyriker, sei es mit der bildlichen Erinnerung, dem Skizzenblock oder der Kamera. Lyriker laufen doch nicht blind und im Lendenschurz durch die Gegend. Sicher machen sich Lyriker Notizen. Museale Beweihräucherungstempel berühmter Namen wimmeln davon. Und beides geschieht neben dem Leiden - wie auch danach und davor. Was Miro mit dem 'neben' meint, entgeht mir vielleicht. 'Neben' ist mir heutzutage alles, die Medien bringen es mir vor Augen und zu Ohren. Kein Mensch kann dabei sein, wenn aberzehntausende von Kindern verhungern, wenn eine Millionen Barrel Öl ins Meer gelöscht werden, wenn ein Ventil in einem AKW versagt.

Auch Fotografen (in der Dunkelkammer, im Schneideraum oder am PC) und Journalisten (am PC, im Archiv, vor dem Video) bearbeiten ihr Material mit zeitlichem Abstand. Alle unsere Wahrnehmung ist erinnerte Wahrnehmung, das Jetzt, das Hier ist das nachinnige Konstrukt.

Endlich sind Lyriker auch laut, liegen ihren Mitmenschen in den Ohren, lärmen und singen und rezitieren. Und Fotografen können sehr still sein, wenn sie mit ihren Bildern zusammen sind. Ok, Journalisten sind meistens lärmig-nervig, aber sie sollen angeblich auch Stille aushalten können, einige jedenfalls. Ich kenne aber keinen. Was jedoch nichts heißen muß.

LG
Susanne

Anonym hat gesagt…

Liebe Susanne,

einfach weitermachen. Dass ich alle Kommentare erst freischalten muss, ist mir schon wichtig. Denn angefangen von religiösen Spinnern, bis hin zu eindeutigen Angeboten sexueller Art, haben schon alle möglichlichen Leute versucht ihren Müll bei mir loszuwerden. Ich sag schon wenn´s mir zuviel wird.

Grüße
Paul

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

Liebe Literaturfreunde,

für die Polemik bin ich offen...sehr zugänglich zwar, aber jemand muss auch stoppen können...
d. h. nicht „sich zurückziehen“ bzw. „nachgeben“ - was wir z. Z. besprechen (auch wenn das Pauls, aber auch jedes andere Gedicht, im weiten Sinne angeht/betrifft/berührt...)
hat viel mehr mit unseren menschlichen (künstlerischen) Aufgaben/Ansprüchen/Einsichten usw. zu tun...

“ Welche Ansprüche das sind? Die kommen in der Gesamtheit von allem was ich schreibe zum Ausdruck, sind aber zum Beispiel auch zu erkennen, wenn ihr meine Auswahl an deutschsprachigen DenkerInnen und DicherInnen auf meiner homepage anschaut.

...und so meine ich auch - mein Blog/mein Garten „wiederspiegelt mich“ (da findet sich Vieles, auch hier Verschwiegenes/Nicht-Angesprochenes/Angedeutetes... - liebe SuMuse, auch Photographien/Gemälde/Grafiken... - aber, das ist wahrscheinlich bei euch genauso...und das ist auch ein Grund mehr, dass ich gern lyrische/literarische/künstlerische Seite von Paul/SuMuse/Fabian/Gabriele/Evelyne/Elsie/Petros/Sintaxia/Bjørn...und...und lese und weiterhin lesen werde)...

...............
Und ab und zu werde mich wieder melden (so lange das erwünscht ist)...

Liebe Grüße
@miro

Anonym hat gesagt…

Oh, ich sehe gerade: das Ende der Diskussion wird verordnet. Das ist einigermaßen enttäuschend, aber dem muß ich mich beugen.

Ich schätze es ganz und gar nicht, wenn Diskussion sich nur im Verkünden von Auffassungen erschöpft. Ich pflege Aussagen, die ich in den Raum stelle, nach Möglichkeit zu begründen. Diese Gründe können falsch sein und kritisiert werden. Das wäre dann für mich lebendige Diskussion. Einen Geltungsanspruch eo ipso haben meine Aussagen nicht.

@Miro: Vor Tische las man's anders: "Und bei der Kritik (wenn ich kritisiere) bin ich direkt, auch wenn es manchen nicht passt... Gegenseitiges Loben bringt uns nirgendwo...Ich bin mehr offen für die Kritik (auch unberechtigte) als fürs Lob..."

LG
Susanne

Anonym hat gesagt…

Liebe Susanne,

niemand verordnet hier das Ende der Diskussion außer mir!
Aber natürlich kann ich niemanden dazu zwingen sich zu äußern. Es soll auch jeder schweigen können, wenn er will.

Liebe Grüße

Миррослав Б Душанић hat gesagt…

Liebe SuMuse,

meine Aussagen (aber auch die Begründung, die ich abgegeben habe) sind mehr als eindeutig und da hat sich nicht geändert...was wir beide hier treiben ist mehr private Korrespondenz geeignet vielleicht für ein Forum oder was Ähnliches - außer uns keiner macht mit, wahrscheinlich keiner liest mehr außer Paul, es ist anstrengend geworden ständig umblättern und suchen, beansprucht die Zeit...)

Eine bessere Lösung für so eine Art zu diskutieren haben Fabian Tietz und Bjørn Ziegert vereinbart und organisiert (siehe bitte Einfache Menschen reden über Dichtung!)

Und ehrlich gesagt, ich bin nicht beim Wettbewerb, dass ich aus dieser Diskussion/Polemik unbedingt als Gewinner auskommen muss. Wenn dann jemand behauptet, es sei „soundso“, na ja! Dann ist es eben so. Was soll ich tun? ...wie Danilo Kiš ein Polemik-Buch („Anatomiestunde", ISBN : 978-3-446-19489-2) vielleicht schreiben - so interessant sind wir beide aber nicht...

LG
@miro

P. S.
So konservativ bin ich nicht und Du auch nicht so modern wie das evtl. aussieht...

Anonym hat gesagt…

Lieber Miro,

was wir hier zu treiben versuchten, war nicht nur privat. Auch wenn niemand sein Tuch in den Zirkel warf. Ich weiß natürlich nicht, welche Bedeutung solches Gerede wie das Unsere anderen hat. Mich sprach sowohl das Thema (Vorort, Ghetto) als auch die Färbung (Besuch aus den oberen Schichten) direkt und sehr persönlich an. Vielleicht hätte ich andernfalls anders oder kaum reagiert. Wenn es dir zu anstrengend wird, lies einfach nicht weiter. Meine Bedeutung liegt nicht darin, auch wenn ich Lesen und Blättern selten als anstrengend empfinde.

Ich sehe jedoch nicht, daß ein Blog ein ungeeigneter Ort für solches Diskutieren wäre. Jeder Ort, an dem Menschen mit Interesse aufeinander treffen, ist mir dazu geeignet. Und ein Blog böte die Möglichkeit, fern der Borniertheit des Show-Bizz mit seiner offenbaren Notwendigkeit des Prahlens und Ausstechens zu reden. Ein spezielles Forum wie das von dir Erwähnte böte das sicherlich auch, doch bleibt solches wohl immer marginale Privatveranstaltung.

Einen Gewinner hierbei sehe ich auch nicht, was wäre denn nur zu gewinnen? Ich habe den Ehrgeiz, nichts Unreflektiertes zu tun oder zu sagen - es wäre mir Gewinn, diesem Ziel näher zu kommen. Einen anderen Gewinn vermag ich nicht zu sehen.

Als allgemein interessant sehe ich mich in einem abstrakten Sinne auch nicht. Da sind andere Menschen mir unerreichbar über. Muß ich aber deshalb schweigen? Und in meiner kleinen Welt sind die Menschen, mit denen ich rede, mir sehr interessant. Was natürlich nichts über mein Interessant-Sein für andere besagt. Außer, daß ich ein klein wenig eitel bin in diesem Punkt.

Und - modern ist mir keine bedeutsame Kategorie. Vielleicht ist meine Kleidung modern, aber selbst das wäre beinahe mehr Zufall und dem Umstand geschuldet, daß ich mich im gebährfähigen Alter befinde. Mir ist Mrs. Dickinson allemal moderner als nahezu alle aufgeregten Slam-Poeten, weil sie mir mehr sagt. Und ich mich per se als ein Jetzt empfinde, daher als modern. Alles andere ist mir gleichgültig.


Nicht aber: wenn ich das Gefühl habe, Zeuge eines Aktes der Umündigkeit (i.e. eines nicht begründeten Anspruchs) zu werden. Solches erbittert mich. Ich bin beileibe keine Rebellin, sondern vielmehr eine sehr gerne brave und anstellige kleine Gestalt. Aber Autorität will ich nicht nur legitimiert, ich will sie begründet haben, und das nicht mit Namen und raunenden Hinweisen, nicht mit einem vagen on-dit, sondern substantiell! Und solange ich in diesem Anspruch nicht zufrieden gestellt bin, quietsche ich wie ein rostige Tür, durch die der nächtliche Heimkehrer unbemerkt schlüpfen möchte. Das ist anstrengend, sicherlich. Aber Begründen ist nun einmal anstregend. Wer Ansprüche an andere stellt, muß sich dieser Mühe unterziehen, oder er enttarnt und entkräftet seine Ansprüche implizit.

Für mich sind Diskussion, auch wenn sie ergebnislos enden - was sie ja meist tun - zumindest ein Akt der Selbstklärung. Was daran ist falsch? Ich tue viele Dinge, ohne zu wissen, daß ich sie tue. Wie schön, wenn ich mit der Nase darauf gestoßen werde, was ich denn nur um Himmels Willen alles so tue! Ich bin nicht perfekt, und je mehr ich mit anderen Menschen rede, desto mehr fällt mir auf: diese auch nicht. Noch ist wohl kein Weiser vom Himmel gefallen! Jeder kann also vom Geschwätz nur profitieren.

Hoffe ich, zumindest.

LG
Susanne